Hamburg, 26th November 1888
Hugo Riemann to Adalbert Lindner
Weiden,
Stadtmuseum Weiden, Max-Reger-Sammlung,
Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 41f.
Wilibald Gurlitt, Aus den Briefen Max Regers an Hugo Riemann, in Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für das Jahr 1936, Leipzig 1937, S. 75f.
1.
Sehr geehrter Herr!
Offen gestanden flößte mir Ihre Sendung zuerst einiges Entsetzen ein und zwar nicht zum kleinsten Theil deswegen, weil Ihr Schüler Max Reger mir zu fest von der Phrasierungs [Einschub:»Motiv-«]sucht angekränkelt schien; bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch, daß es mit der Motivsucht noch nicht allzuviel auf sich hat und daß er die Elemente der Phrasierungslehre begriffen hat. Lassen Sie mich kurz sein: ich denke, der junge Mann hat Talent, vorläufig aber kann und weiß er noch nicht allzuviel. Ich will ihn keineswegs entmuthigen, aber das muß ich doch sagen: auf dem betretenen Wege wird er nicht so bald weiterkommen!
Daß das gesamte Werk keine Ouvertüre ist, wissen Sie ja, es ist aber auch kein Kammermusikwerk, und zwar einfach darum, weil die einzelnen Instrumente noch gar nicht wissen was sie zu thun haben. Welch klägliche Rolle spielt z.B. die erste Violine! Die Kontrapunkte sind zum Theil recht ordentlich freilich macht aber einer den andern tot! Gestatten Sie mir daher für Herrn Reger den 4. Band der Kompositionslehre von Marx beizulegen sowie meinen Kontrapunkt. Dazu aber muß ich den guten Rath fügen, daß Herr Reger zuerst und vor allem sich in der Melodieentwicklung übt. Möge er Lieder, Kammerstücke, Quartettsätze, besonders Adagios (ohne Variationen) schreiben, um etwas längeres denken zu lernen als Motiven von vier Takten. Bayreuth ist Gift für ihn. Lassen Sie ihn Bach und Beethoven studieren, bis er im Stande ist, einen vernünftigen getragenen Satz zu schreiben. Und was die Phrasierung anbetrifft so soll er sich nicht zu sehr ins Detail verlieren; die Phrasierungslehre steckt noch in den Anfängen, hat aber bereits jetzt ein ganz anderes Aussehen als das, welches Herr Reger von ihr kennt. Satzbau – das ist die Quintessenz der Phrasierungslehre. Warten Sie noch 8 Wochen, so wird mein Katechismus der Kompositionslehre heraus sein, welche den jetzigen Stand der Lehre klarlegt. Meine ersten Arbeiten über Phrasierung steckten noch im Taktmotiv fest, vor 2 Jahren erst lernte ich den schweren Takt kennen, jetzt endlich begreife ich den Satzbau und habe die Phrasenbogen nicht mehr nöthig. Grüßen Sie Ihren Schüler, geben Sie ihm die Bücher und ermahnen Sie ihn, nicht allzu auftaktig zu denken und lieber Melodien statt Motive zu erfinden.
Mit Hochachtung ergebenst
Dr Hugo Riemann
Hamburg,
d. 26 Nov. 1888.
Object reference
Hugo Riemann to Adalbert Lindner, Hamburg, 26th November 1888, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01009509.html, last check: 1st November 2024.
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