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Knud Breyer, Stefan König

1. Zum Begriff der Leitquelle

Die Erstdrucke der Lieder weisen insbesondere im Bereich der Halsung bei Akkorden in mehrstimmiger Schreibweise erhebliche Unterschiede zu den Lesarten der autographen Stichvorlagen auf. Des Weiteren führen auch die Bogensetzung sowie der spezifische Gebrauch der subito-Angabe bei Reger stellenweise zu Missverständnissen in den Erstdrucken (s.u., II. Orthografische Besonderheiten und Probleme) Die einzelnen editorischen Befunde legen nahe, dass die Unterschiede bezüglich dieser Parameter nur in seltenen Fällen auf Interventionen Regers in den Korrekturfahnen zurückgehen. Vielmehr ist anzunehmen, dass sie Standardisierungen seitens des Verlags darstellen sowie bisweilen auf Fehlinterpretationen der Notation in der Stichvorlage beruhen. Reger scheint diese Abweichungen während des Korrekturprozesses nicht in den Blick genommen zu haben – vielleicht auch, weil Änderungen auf der Druckplatte in diesen Bereichen nicht ohne notensetzerischen Aufwand zu bewerkstelligen gewesen wären.

Obgleich die Erstdrucke als vom Komponisten autorisierte Form eines Werks weiterhin als Leitquellen der Edition gelten (siehe Zur Edition der Lieder und Chorwerke), zumal Reger im Laufe des Drucklegungsprozesse an einigen Stellen Revisionen vornahm, wird insbesondere in Bezug auf Bogensetzung und Halsungen bei mehrstimmigen Akkorden oftmals den Lesarten der Stichvorlagen der Vorzug gegeben.

2. Orthografische Besonderheiten und Probleme

2.1. Halsung/Tondauern bei Akkorden in mehrstimmiger Schreibweise

Bei mehrstimmiger Schreibweise innerhalb eines Notensystems setzt Reger bei benachbarten Noten häufig einen durchgehenden Notenhals. Diese nicht zuletzt auch der Schreibökonomie geschuldete verbindende Halsung verunklart die Zuordnung einzelner Töne zu Ober- und Unterstimme und hat somit Konsequenzen für deren Notenwerte. Nur vereinzelt trennte Reger Ober- und Unterstimme nachträglich durch Rasur, um missverständliche Lesarten zu vermeiden. Änderungen auf dieser Ebene im Korrekturabzug, die großen notenstecherischen Aufwand erfordert hätten, nahm Reger kaum vor.

Angesichts des zumeist sehr komplexen Klaviersatzes kommt es vor diesem Hintergrund gehäuft zu Unklarheiten bezüglich der Dauer einzelner Akkordtöne. Oftmals widerspricht die Halsung mi Erstdruck der Stichvorlage bzw. der Erstdruck bildet die Stichvorlage nur unzulänglich ab. Auffallend ist, dass sich die Notensetzer bzw. Lektoren oftmals für eine einfache Halsung entsprechend dem jeweils kleineren Notenwert entschieden haben. Darüber hinnaus scheint auch an Stellen, an denen sich die Lesarten von Erstdruck und Stichvorlage decken, mitunter zweifelhaft, ob die Halsung Regers Intentionen korrekt wiedergibt.

Da Interventionen Regers auf dieser Ebene kaum stattfanden und abweichende Lesarten des Erstdrucks zumeist auf die Interpretation bzw. Entscheidung des Notenstechers zurückgehen, wird in der RWA im Bereich der mehrstimmigen Halsung von Akkorden im Zweifel der Stichvorlage der Vorzug gegeben. Falls Stichvorlage und Erstdruck gleichermaßen unplausibel erscheinen, muss individuell entschieden werden. Editorisch eindeutig sind dabei die zahlreichen Fälle, in denen zu haltende Akkordtöne aufgrund falscher Halsung eine zu kurze Dauer haben. An diesen Stellen ist eine Änderung der Halsung in der Weise, dass der entsprechende Ton dem notwendig längeren Zeitwert zugeordnet wird, zwingend. Auch bei Oktavgriffen, insbesondere in der Unterstimme der linken Hand, scheint eine gemeinsame Halsung mit dem zumeist längeren Notenwert wahrscheinlich, zumal bei einer Abkoppelung der Ober- von der Unteroktave eine klangliche Lücke entstünde.1

Bei Tonhöhengleichheit in der zweistimmigen Notation setzt Reger oftmals für beide Stimmen nur einen Notenkopf und halst diesen doppelt. Dadurch entstehen bisweilen metrische Inkonsistenzen, etwa wenn binärer- und ternärer Rhythmus in Ober- und Unterstimme zusammentreffen (siehe z. B. Opus 62 Nr. 14, T. 14 ff.) oder die Tondauern innerhalb einer in längeren Notenwerten notierten Unterstimme unklar bleiben (z. B. Opus 62 Nr. 1, T. 19 oder op. 76 Nr. 9 passim). In der RWA werden nur in eindeutigen Fällen (z.B. bei Harmoniewechsel) ggf. Pausen oder Prolongationspunkte in diakritischer Auszeichnung ergänzt. Ansonsten werden die Inkonsistenzen von Stichvorlage und Erstdruck beibehalten.

2.2. Bogensetzung

Reger zieht seine Phrasierungs- und Artikulationsbögen im Klavierpart in weitem Schwung, wodurch sie oftmals links und/oder rechts über die Randnoten hinausragen. Nur stellenweise verdeutlicht er die Bogeneinheiten nachträglich durch Einbiegung der Bogenenden nach innen. Dieser Übersatz kann zu Fehlinterpretationen der Notenstecher führen, in deren Folge in den Erstdrucken den Bogeneinheiten direkt vorangehende oder nachfolgende Noten, auf welche die Bögen zu zielen scheinen, als Phrasenbeginn oder -ende integriert werden.

Dabei ist seitens der Notenstecher eine Tendenz zur Standardisierung bzw. Vereinfachung zu erkennen: Bogeneinheiten werden in den Erstdrucken oftmals als Zählzeiteinheiten zusammengefasst, obwohl das Autograph differenziert: Häufig sind Takt- und Phrasierungsschema von Reger gerade nicht kongruent gestaltet, beispielsweise, indem Phrasen die Zählzeiten überlappen oder sich zu ihnen asymmetrisch verhalten (siehe z. B. Opus 66 Nr. 11, T. 15, wo der Bogen erst nach dem ersten Triolen–Sechzehntel beginnen soll). Darüber hinaus scheinen die Phrasierungen in den Handschriften bisweilen pianistische Abläufe abzubilden, d. h. auf haptische Aspekte zurückzugehen: Die innerhalb einer Handspanne gespielten Töne bzw. das Umgreifen der Hand wären demnach durch Bogeneinheiten bzw. Bogenwechsel dargestellt.

Eine generelle Vereinheitlichung der Phrasierung über längere Strecken eines Lieds ist jedoch kaum angezeigt. Irregularitäten innerhalb der Phrasierung bzw. wechselnde Phrasierungs-Einheiten sind auch in eigentlich gleichbleibenden Begleitmustern nicht selten. Gleichwohl ist nicht bei allen Irregularitäten Absicht zu unterstellen. So können etwa Phrasierungs-Einheiten durch Seitenwechsel aus dem Blick geraten sein. In der RWA wird bei Zweifelsfällen daher auch die innerhalb eines Lieds vorherrschende Phrasierung berücksichtigt. Den Handschriften kommt bei den editorischen Entscheidungen oftmals ein stärkeres Gewicht zu als den durch Standardisierungen gekennzeichneten Erstdrucken.

2.3. subito-Angaben

Eine weitere Besonderheit von Regers Notation sind subito-Angaben, die für sich stehen und nicht an eine Dynamik- oder Tempoanweisung gebunden sind. Sie sind als Hinweis zu verstehen, an dieser Stelle (zwischen zwei Phrasen, Abschnitten etc.) keine Zäsur bzw. Pause zu machen. Daher notiert Reger die Angaben in seinen Stichvorlagen zwischen den entsprechenden musikalischen Ereignissen und schreibt sie bei Platzmangel (z. B. über dem Taktstrich) auch vertikal. Dieser eher ungewöhnliche Gebrauch des subito führte bei den Notenstechern jedoch zu Missverständnissen. In den Erstdrucken ist die Angabe daher häufig nicht als für sich stehend gestochen, sondern fälschlich mit der nächsten Dynamik- oder Tempo-Anweisung (als subito , subito a tempo) verbunden.


1
In Bezug auf eine autorisierte Klavierbearbeitung der Hiller-Variationen op. 100 sollte Reger später anmerken: »Ferner ersuche ich Herrn [Otto] Singer noch darum, dass er die Bässe nochmals nachsieht; nämlich ich kann es absolut nicht leiden, wenn so die tiefsten Klaviertöne wie die Wildschweine allein grunzen u. die obere Oktave dabei fehlt.« (Brief vom 6. April 1909 an den Verleger Hugo Bock, zitiert nach: Max Reger, Briefe an den Verlag Ed. Bote & G. Bock, hrsg. von Herta Müller u. Jürgen Schaarwächter, Stuttgart 2011 [= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XXII], S. 59–62; hier: S. 60).
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Authors:
Knud Breyer, Stefan König

Date:
5th September 2023

Tags:
Module IISongsVol. II/1Vol. II/2Vol. II/3Vol. II/4Vol. II/5

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Citation

Knud Breyer, Stefan König: , in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/rwa_post_00009, last check: 18th May 2024.

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