Leipzig, 29th November 1946

Karl Straube to Fritz Stein

Object type
Letter
Date
29th November 1946 (source)
Sent location
Leipzig
Source location
unknown

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Incipit
Lieber Freund!
Nach meiner Rückkehr aus Bad Lausick war es mir eine grosse […]

Regesta
Remarks
Referenced works

Publications

Karl Straube, Briefe eines Thomaskantors, hrsg. von Wilibald Gurlitt und Hans-Olaf Hudemann, Stuttgart 1952, S. 214–216

1.

29. 11. 1946

Lieber Freund!
[…]
Gestern wollte ich Ihnen einen Brief schreiben. Heute tue ich es, um Ihren Rat und Ihre Kritik als Freund und Musiker zu erbitten. Anfang Oktober 1946 schrieb mir Herr Dr. Söhngen einen Brief mit dem Inhalt, mich um eine „eine musikwissenschaftliche Ausgabe der Orgelwerke von Max Reger zu bitten“. […] Ich konnte mir in aller Ruhe den Vorschlag überlegen. Dann erst habe ich Herrn Dr. Söhngen vor etwa vierzehn Tagen meine Ansicht über diesen Plan schriftlich dargelegt [Brief], die dahin ging, dass ich nicht berufen sei, eine „musikwissenchaftliche Ausgabe“ zu publizieren, da diese durch Max Reger mit der gestochenen und gedruckten Herausgabe seiner Werke in authentischer Veröffentlichung vorliege. Wohl aber könnte ich daran denken, eine Ausgabe der Orgelwerke für den praktischen Gebrauch auszuarbeiten, die das Ziel verfolge, die überladenen agogischen und dynamischen Bezeichnungen des Komponisten zu vereinfachen, um so ein klareres Bild über den musikalischen und damit geistigen Aufbau dieser Opera zu geben, als es Reger, – aus ganz bestimmten Gründen, die in seiner seelischen Persönlichkeit begründet liegen, – möglich sein könnte. […] In Erinnerung an unseren großen Freund wäre es eine schöne, mich tief bewegende Aufgabe. Doch bin ich in Zweifel, ob eine solche Ausgabe heutzutage noch notwendig sei. Kennen Sie meine Einrichtung der Fantasie über: „Ein feste Burg ist unser Gott“ (op. 27)? Sollte es der Fall sein, was sagen Sie dazu? Die Tendenz meines Wollens geht dahin, dieses Orgelwerk von Max Reger lebendig zu erhalten, auch für den Orgeltypus der klassischen Zeit. Aber ist es richtig, den romantischen Klang der Orgeln um 1900 auszuschalten? Zweifellos ist Reger in den „Drei Orgelstücken“ (op. 7 […]) und in der Suite op. 16 beeinflußt durch den Klang der alten Orgeln, ebenso auch in op. 27, op. 29 Fantasie und Fuge (c-moll) […] op. 30 (Freu dich sehr, o meine Seele). Aber mit der fis-moll-Sonate [op. 33], mit den Orgelfantasien über „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“ [op. 40 Nr. 1] und „Straf mich nicht in deinem Zorn“ [op. 40 Nr. 2] verändert sich das Bild zugunsten der modernen Orgel. Ähnliche Klänge werden auf dem Typus der aus der Orgelbewegung geborenen Instrumente vorhanden sein. Jedoch der Farbenzauber des Impressionismus in seinen Möglichkeiten ist völlig verschwunden.
Wie ich offen gestehen muß, bedeutet mir der Klang einer Sauerorgel heute nichts mehr, obgleich es ein Instrument von durchaus originaler Klangart und somit von eigener Bedeutung ist in der Entwicklung des Orgelbaues. Der alte Wilhelm Sauer […] war ein sehr kluger Mensch, der von Werten des romantischen Orchesters etwas wußte und in der Übertragung dieser Klangwirkungen auf die Orgel sein künstlerisches Aufgabenziel sah.
Heute kommt für mich nur der Klang der Arp Schnitger- oder der Silbermann-Orgel in Betracht, Instrumente, die den in sich ruhenden Orgelklang darstellen und allem Orchestralen durchaus fern sind. Leider kann die Orgel als solche nicht ein organisch gewachsenes Instrument genannt werden wie alle Streichinstrumente. Jeder Orgelbauer kann sie nach einem eigenen Prinzip ganz neu im Pfeifenwerk zusammenstellen und in dieser eigenen Kombination der Klangmöglichkeiten die künstlerische Vollendung des endlich erreichten königlichen Orgelklanges preisen. Wir können nicht wissen, ob nicht im Jahre 1986 die Deutsche Orgelbewegung als Historismus abgelehnt wird und eine Rückkehr zu den Werten der romantischen Orgel als der Weisheit letzter Schluß gepredigt wird. Was wird dann aus meiner praktischen Regerausgabe? Fidibusse für die Zigarettenraucherinnen.—
[…]

Ihnen und all den Ihren die herzlichsten Grüße von
Karl Straube

Object reference

Karl Straube to Fritz Stein, Leipzig, 29th November 1946, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01013082.html, last check: 13th May 2024.

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