Wiesbaden, 11th May 1895
Max Reger to Ferruccio Busoni
Berlin,
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz,
Musikabteilung,
Mus.Nachl. F. Busoni B II, 4048
- Max Reger
Herrn B. F. Busoni
Tonkünster
Charlottenburg
Kantstr. 153
Helsingfors, Finnland
Hochgeehrter Herr!
Entschuldigen Sie, daß ich erst heute zur Beantwortung […]
die Arbeit an seinem Klavierkonzert (WoO I/4) brach Reger schließlich ab, ein zweites Konzert aus jener Zeit ist verschollen • Beethoven-Variationen (op. 86) wurden erst 1904 geschrieben
- Klavierkonzert f-moll WoO I/4
- Variationen über ein Thema von Ludwig van Beethoven
Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 237f.
Die Union, 20. März 1948
Allgemeine Musik-Zeitung 63/20 (1936), S. 319
Programmheft zum 10. Deutschen Regerfest in Freiburg i. Br., S. 13
1.
W. 11 Mai 1895.
Hochgeehrter Herr!
Entschuldigen Sie, daß ich erst heute zur Beantwortung Ihres liebenswürdigen Briefes komme.
Eigentlich bin ich recht neidisch auf Sie, daß Sie jetzt Sommerferien machen können – ich wollte, ich könnte es auch. Denn jetzt heißt es noch bis Mitte August hier aushalten u. so viel, viel Stunden geben – u. dazu größtenteils an gänzlich unbegabte Leute – für einen erbärmlichen Honorarsatz. Und was soll ich in den 4 Wochen Ferien machen, werde in meiner Heimat weiter nichts thun als komponieren.
Jetzt bin ich an einem Klavierkonzert [WoO I/4] (Eugen d’Albert gewidmet – darf ich Ihnen wohl mein zweites Klavierkonzert widmen?) nachher kommen Variationen für großes Orchester über ein Thema von Beethoven.
Das ist der Fluch des Unterrichtens – nimmt man es wirklich ernst, so stößt man überall auf Hindernisse u. Unannehmlichkeiten, nimmt man es leicht, so lernen die Schüler nichts.
Sehr erfreut bin ich über Ihre gütige Versprechung, mir einiges von Ihren Werken zu senden, u. ebenso über Ihr Versprechen, mir Ihr geschätztes Urteil über meine Werke in einem späteren Briefe mitteilen zu wollen. Hier in Wiesbaden ist leider keine Gelegenheit, um Novitäten zu bringen, da alles so musiktodt als möglich ist.
Ja, daß ich in Leipzig nicht den gewünschten Boden fände, das glaube ich selbst – überhaupt solange Leipzig noch sehr unter dem Gestirn „Reinecke“ steht, wird für einen „modernen“ Musiker Leipzig wenig Anregung bieten! Und nochmals als Schüler ins Konservatorium einzutreten, das geht mir doch contre cœur!
Ich habe mich jetzt absichtlich 3 Jahre vom Schaffen größerer Werke zurückgehalten, um selbst mehr innere künstlerische Klarheit zu haben u. nicht mehr in die z.T. unberechtigten Übertreibungen zu verfallen, die in meinen ersten Sachen sind. O Gott, heute bin ich ja erst 22 Jahre alt, da hat man ja noch Grund genug um zu lernen. Richtung habe ich keine; ich nehme das Gute, wie es eben kommt. Und ist mir jede musikalische Parteilichkeit – [„]Brahms contra Wagner“ – im Grunde höchst zuwider. Auch halte ich es für ein total verfehltes Unternehmen von unseren Musikzeitungen mit dem ewigen, ewigen Wagner! Jeder Künstler von „Gottes Gnaden“ weiß doch selbst, daß Wagner das ist, was er eben ist – warum denn immer so hartnäckig Wagnerartikel bringen.
Gerade die neu aufwachsende Generation sollte man überall immer u. immer wieder an den Urquell musikalischen Schaffens u. göttlichster Kunst – Joh. Seb. Bach – hinweisen u. zualler[er]st den Leuten zeigen, was J. S. Bach eigentlich ist. Leider daß F. Liszt seine Ausgabe [Einschub: „Übertragungen“] von Bach’schen Orgelwerken (Peters) so schlecht gemacht; es ist wahrlich nur Copistenarbeit. Und wie soll die heutige, mit Thannhäuser & Tristan geschwängerte Jugend überhaupt zu einem richtigen Verständnis von Bach kommen. „Bach muß akademisch“ gespielt werden, ist das Feldgeschrei der hochweisen Professoren – u. so hört man diesen Giganten immer eingezwängt in ein viel zu enges Corsett.
Entschuldigen Sie meine Aufrichtigkeit; allein so von Zeit zu Zeit überkommt mich die Wut, wenn ich ansehen muß wie man Musik macht.
Also von Herzen beste fröhlichste Ferien. Ruhen Sie aus auf Ihren Lorbeeren u. erfreuen Sie uns nächste Saison hier in W. Überraschen Sie die musikalische Welt auch wieder mit neuen Werken – u. glauben Sie mir, es gibt selten einen Musiker, der neidloser u. bewundernder die Schöpfungen wirklicher zeitgenössischer Tondichter aus vollstem Herzen anerkennt u. verehrt als Ihren
mit vorzüglichster Hochachtung
mit besten Grüßen
ergebensten
Max Reger
Wiesbaden
Bleichstr. 39 II.
Gute Ferien!
Erwarte nächstens eine Symphonie von Ihnen!
Erlaube mir als Zeichen meiner vorzüglichsten Hochachtung
u. Verehrung eine Photographie beizulegen.
Object reference
Max Reger to Ferruccio Busoni, Wiesbaden, 11th May 1895, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01002425.html, version 4.0, 18th December 2025.
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