Wiesbaden, 6th April 1894

Max Reger to Adalbert Lindner

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Letter
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6th April 1894 (source)
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Wiesbaden
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  • Max Reger
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Incipit
Lieber Freund!
Leider weiß ich Deinen letzten Brief nicht mehr so ganz als daß ich mich […]

Regesta
E. hat die Allgemeine Musik-Zeitung abonniert • Otto Leßmann und Max Seiffert gelegentlich »auf ganz einseitigem Standpunkt«, d.h. aus der Richtung der neudeutschen Schule • Ausführungen zu Problemen des Formbegriffs (Symphonische Dichtung): »Joh. Brahms hat es uns bewiesen, daß die „Form“ überhaupt ein ganz u. gar abstrakter Begriff ist • über Beethoven (er beherrsche den Kontrapunkt nicht so gut wie Bach) und über Schumanns kompositorische Entwicklung • Eugen d’Albert einer Meinung mit Reger; hat jetzt von d’Albert dessen neuesten Kompositionen erhalten (Klaviersonate fis-Moll op. 10, 2. Klavierkonzert E-Dur, 2. Quartett Es-Dur op. 12) – schwieriger als Regers eigene Werke • weniger Rezensionen in der Leßmann’schen Zeitung, da es Leßmann nicht gelungen ist, Reger ganz auf die Seite der Neudeutschen zu ziehen • betont, kein Feind Wagners zu sein
Remarks
Referenced works

Publications

Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 183–185

Alles endet, was entstehet. Musikerbriefe von Adrian Willaert bis Max Reger, hrsg. von Margot Wetzstein, Leipzig 1987, S. 222–224

Robert Scherwatzky, Die großen Meister deutscher Musik in ihren Briefen und Schriften, Göttingen 1942, S. 343

Allgemeine Musik-Zeitung 63/20 (1936), S. 319

Musikpädagogische Blätter 52/1 (1929), S. 4

Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters. Ein Lebensbild, hrsg. von Else von Hase-Koehler, Leipzig 1928, S. 38-40

Adalbert Lindner, Max Reger. Ein Bild seines Jugendlebens und künstlerischen Werdens, Stuttgart 1922, S. 266, 274,-276, 291

Reger-Studien 8, S. 248

1.

Lieber Freund!

Leider weiß ich Deinen letzten Brief nicht mehr so ganz als daß ich mich auf eine ausführliche Beantwortung desselben einlassen könnte. In Deiner Familie wird wohl alles wohl sein; u. so denke ich, daß wir die kleinlichen persönlichen Sachen gleich von Anfang alle fallen lassen können. Du bist also abonniert auf die Leßmannsche Zeitung; das ist ganz gut; aber Du darfst dem Urteile von O. Leßmann u Dr. M. Seiffert auch nicht alle Gültigkeit beimessen; die Leute stehen nach meiner Ansicht noch auf einem ganz einseitigen Standpunkt. Selbe sind eben nur Wagner u Lisztsche Schule; wollen in Folge dessen als Form der Symphonie die „Symphonische Dichtung“ d.h. also auf gut Deutsch: 1. Satz, Scherzo, Adagio, Finale fallen weg, u. das Ganze soll zu einem einzigen Satze verschmolzen werden, der natürlich aber doch die Tempomodifikationen hat. Natürlich kann ich mich mit dieser „poetischen Idee, die jeder Symphonischen Dichtung zu Grunde liegen soll“, wenig befreunden; denn bisher ist es doch noch nicht gelungen, daß Komponisten dieser Richtung wie Fr. Liszt, R. Strauß Werke geschaffen haben, aus denen man mit unumstößlicher Gewißheit herauslesen kann, daß die „alte“ Form überlebt sei. Überhaupt wird mit dem Worte „Form“ der größte Unsinn begangen; es wird soviel darüber geschrieben u. klar ist sie doch nicht definiert. Z.B. Beethoven ist in jeder seiner Symphonien, seiner Sonaten, seiner Streichquinttette [sic] anders; wo bleibt denn da der „Schematismus, wo bleiben denn da die ausgetretenen Bahnen. Ein Joh. Brahms hat es uns bewiesen, daß die „Form“ überhaupt ein ganz u. gar abstrakter Begriff ist; denn er springt – trotzdem alle Kritiker ihn „formvollendet“ erklären, gerade mit der Form am freiesten um.

Natürlich wenn Epigonen dazu kommen – dann wird die Sache kritisch; aber die Richtung Liszt-Strauß hat auch schon viele Epigonen. Im Grunde genommen sind wir ja alle Epigonen Joh. Seb. Bach’s; leider besaß Beethoven nicht die Beherrschung der kontrapunktischen Künste so eminent wie Bach sie hatte – daher auch so oft bei Beethoven in den Fugensätzen die nicht weg zu läugnende Härte des Satzes in bezug auf F. Technik. Ich führe als Beispiel an die monströse Schlußfuge aus op 106, ferner die Schlußfuge der Sonate für Violoncello u Klavier op 101 [recte: 102] N 2 (Ddur); einen wahrhaften Genuß wird man mit diesen Stücken selbst beim idealvollkommensten Vortrage wie ich ihn mir von E. d’Albert denke u erhoffe, keinem Hörer bieten können. Schumann selbst war gut in der Zeit seiner Burschenherrlichkeit, während er mit der so allmählichen Umnachtung seines Geistes oft recht arm u. trocken in der Erfindung ist; seine letzten Sachen sind geradezu ungenießbar. Die Fismollsonate op 11 von ihm ist sehr schön, ist aber im 1. Satze rhythmisch zu eintönig, wie man denn überhaupt bei Schumann eine gewisse Monotonie des Rhythmus sehr leicht nachweisen kann. (B dur Symphonie 1. Satz );

er macht in diesem Satze den Rhythmus mausetod.)

Brahms selbst ist jetzt nach [Einschub: »seit«] Beethoven wieder der größte; aber auch er hat gewisse Maniriertheiten! Phrygische Terz, dorische Sexte, ferner
etc.

in der Behandlung des Klaviers steht er einzig da; der Klaviersatz bei ihm hat ganz u. gar orchestrale Färbung; allerdings fehlen die Passagen, chromatischen Scalen etc bei ihm fast ganz; aber er entschädigt da doch durch eine reiche Polyphonie u. größte Noblesse der Melodik was man als „Mißachtung des sinnlichen Wohlklangs“ zu bezeichnen beliebt. Man soll sich aber zuerst in die eminente Ausdrucksfähigkeit seiner Melodik recht versenken; es liegt bei ihm nicht alles offen da; er liebt es, die Schönheiten seiner Werke mit einem Schleier zu verdecken; u. diese Schönheiten wird man erst gewahr wenn man die Werke genauer kennt; fürs gewöhnliche Publikum ist freilich diese Art etwas unverständlich; trotzdem ist Brahms jetzt doch so weit, daß alle wirklich einsichtsvollen guten Musiker ihn für den größten aller jetzt lebenden Komponisten bezeichnen müssen, wenn sie sich nicht blamieren wollen; seine letzten 3 Symphonien (D dur, F dur, E moll) stellen ihn als Symphoniker direkt zu Beethoven u. mit seinen anderen Kammermusik-werken, mit seinen Liedern hat er uns entschieden gefördert.

Und wenn Leßmann noch sehr sich bemüht, Brahms u. den Brahmsnebel, wie [Wilhelm] Tappert sich ausdrückt, zu zerstreuen – „der Brahmsnebel“ wird bleiben – mir ist er lieber als die Gluthitze von R. Wagner, R. Strauß.

Eugen d’Albert ist derselben Ansicht wie ich; er hat mir nun seine letzten 3 Werke, Sonate für Klavier op 10 Fis moll, 2. Konzert für Klavier (E dur) mit Orchesterbegleitung zugesandt nebst der Partitur seines 2. Quartettes Es dur op 12. Da soll man einer noch von der Schwierigkeit meiner Sachen reden, dann verweise ich ihn direkt auf die Werke Eugen d’Alberts. Jetzt ist die Zeit eines argen musikalischen Kampfes; gerade wie in der Politik, so platzen jetzt die Bomben auch in der Musik. Die Zeitschriften selbst bekämpfen sich mit allen möglichen anständigen u. unanständigen Mitteln – dies Feldgeschrei „Hie WagnerStrauß – Hie Brahms“ ist die Losung – wenn die Schafsköpfe doch wüßten mit welcher Seelenruhe der alte Johannes in Wien sitzt u. sein Pilsener trinkt, ruhig weiterkomponiert, sein Honorar einnimmt u. im Sommer halt so ein bißchen Ausflüge macht.

Warum Leßmann z.B. in letzterer Zeit keine Kritiken mehr bringt von mir! Ja, weil es ihm nicht gelungen ist, mich in das Lager der „Wilden“ zu ziehen u. das weiß er ganz genau, daß ich seinen Bestrebungen betreff R. Strauß etc etc nicht sehr sonderlich gesonnen gegenüber stehe; ich bin kein Feind Wagners, aber sträube mich dagegen, die Wagnerschen, Berliozschen, Straußschen Prinzipien in die reine Instrumentalmusik aufzunehmen.

Nun benütze ich noch die Gelegenheit Dir zu Deinem Geburtstag am 22. April zwar etwas verfrüht die aufrichtigsten Glückwünsche zu senden.

Schreibe wenn Du mal Zeit hast mir wieder;
es wird stets sehr freuen
Deinen
Dir aufrichtig ergebenen
Freund
Max Reger
Wiesbaden
Bleichstr. 39 II

Object reference

Max Reger to Adalbert Lindner, Wiesbaden, 6th April 1894, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01007902.html, version 4.0, 18th December 2025.

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