Wiesbaden, 19th May 1896
Max Reger to Adalbert Lindner
Weiden,
Stadtmuseum Weiden, Max-Reger-Sammlung,
L 26
- Max Reger
Lieber Freund!
Soeben habe ich den letzten Federstrich an der vierhändigen Bearbeitung […]
- Symphonie h-moll WoO I/5
- Suite in E minor op. 16
- Ausgewählte Orgelwerke Bach‑B1
- Ausgewählte Orgelwerke Bach‑B2
Der junge Reger. Briefe und Dokumente vor 1900, hrsg. von Susanne Popp, Wiesbaden 2000 (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. XV), S. 265-268
Max Reger, Briefe eines deutschen Meisters. Ein Lebensbild, hrsg. von Else von Hase-Koehler, Leipzig 1928, S. 50-52
Wiener Philharmoniker 1941, S. 4f.
1.
W., 19. M. früh 2 Uhr. 1896.
Lieber Freund!
Soeben habe ich den letzten Federstrich an der vierhändigen Bearbeitung der Orgelsuite [op. 16] gethan; selbige Bearbeitung ist nun fix u. fertig, mit Vortragszeichen versehen u. geht selbe in 1 Woche nach London; bis das Werk, d. h. die Bearbeitung erscheint, da vergeht nach meiner Berechnung 1/2 – 1 Jahr. Was Du da noch weiter schreibst wegen der Revolverzeitung, so habe ich alle Verbindung mit Leßmann etc. vollkommen abgebrochen.
Ich habe überhaupt so einen Ekel vor unseren deutschen Musikzeitungen; da bildet sich so ein Kerl wie Leßmann, der nichts, nichts kann (Siehe seine Kompositionen) ein über alles, alles mit größter Seelenruhe sein von gemeiner Schimpferei triefendes Richterschwert zu schwingen! Also gut; wer ist Leßmann! Leßmann hat seinerzeit das Geld gehabt die Zeitung zu kaufen! Ebenso ist es mit E. W. Fritzsch in Leipzig, der nur für seine Verlagswerke (er hat nebenbei Musikverlag) Radau macht. Wer ist Aug. Ludwig – nichts als er hat das Geld gehabt – u. von diesen Menschen, die nicht über das Maß der gewöhnlichen Conservatoriumsbildung hinaus sich weiter entwickelt haben, sollen wir Musiker eine „Reform“ des Musiklebens erwarten können! Du kennst ja die Kulissenschieberei nicht so wie ich! Hat man ja sogar im Comité des allgemeinen deutschen Tonkünstlervereins folgendes beschlossen: Das Trio op 2 von M. Reger wird in Leipzig bei der diesjährigen Versammlung nicht aufgeführt, weil sich M. R. zu wenig Verdienste um die Liszt’sche Richtung erworben hat. Punktum. Nämlich die Hofpianistin Martha Remmert wollte es spielen – u bekam diesen Bescheid auf Ihr Ansuchen. Selbige Dame hat zu Liszt’s Lebzeiten bei jeder Versammlung irgend eine Novität gespielt – nun tritt sie aus aus diesem edlen Verein, wie sie mir gestern schrieb. Natürlich wird in der Leßmann’schen Abortzeitung ganz gräßlich geschimpft auf meine Orgelsuite. Nun ja, warum denn nicht; derjenige der nur 3 Pfennig in der Tasche hat, schimpft ja immer aus Prinzip gegen den der 1000 M bei sich trägt. Was heißt Dein Ausdruck: hinter die Kulissen geschaut! Sei froh, daß Du noch in gewisser Beziehung naiv unserem Kunstleben gegenüberstehst; es ist ja alles alles Schwindel bei uns; wer Jude ist, sich viel für Reklamen die Ausgaben nicht scheut, ist balde „berühmt“1; dagegen wirkliches Können wird immer unterdrückt u. hauptsächlich auf dem Gebiete der Komposition. Es ist zu komisch! D’Albert, der als Komponist in meiner Achtung gar nicht hoch steht, wird in der einen Zeitung als Nachfolger von Brahms bezeichnet – in der anderen als Nachfolger von R. Wagner – d. h. es thut das so ein Schweinehund von unseren Redakteuren. Ich gehe eine Wette ein auf 1000 M, daß wenn Brahms heute eine Symphonie schreibt u. dieselbe unter fremdem Namen herausgibt (so daß es niemand weiß) daß alle unsere Redaktionen sich über den „Anfänger“ lustig machen.
Das bißchen was sich Leßmann einbildet zu sein, kommt daher, weil er sich an Liszt so herangedrängt hat u. Liszt in seiner Gutmütigkeit den Menschen annahm – nicht als Schüler sondern als musikalischen Stiefellecker. E. W. Fritsch in Leipzig, Redakteur des Mus. Wochenblattes, der heutzutage in seinem Blatte eine grimmige unfehlbare Feder führt, war 2 Jahre Schüler am Leipziger Konservatorium – u. übernahm nachher die Redaktion einer „Geflügelzeitung“. Und als diese einging, dann das Mus. Wochenblatt. Weitere Bemerkungen sind vollkommen überflüssig. Heutzutage wenn man sieht wie ein Tappert in Berlin in geradezu unglaublicher Weise seine Kritiken schreibt, in einem Tone wie man ihn bei den Schweinehirten nicht so gemein findet – u. was schreibt dieser Satan alles gegen Brahms, dessen Compositionen er als „deutschen Gelehrtenbrei mit Alsterbassinwasser vermischt“ bezeichnet. In Berlin gibt es eine Börsenzeitung u. einen Börsenkurier! Also diese beiden Zeitungen „lieben“ sich natürlich „inniglich“! Die Folge davon ist diese, daß die Kritiken in diesen Zeitungen stets ganz u. gar ganz u. gar entgegengesetzt ausfallen. Weg mit diesen Hunden, die uns die Luft verpesten u. weiter nichts können als die Marksteine unsrer Musik, wozu ich vor allem in neuster Zeit die 4. Symphonie von Brahms zähle – anzupissen.
Natürlich geistreiche Worte machen kann jeder Schafskopf.
Ich mußte lächeln als ich Deinen Brief las wegen meiner HmollSymphonie [WoO I/5] ! Weißt Du denn noch nicht daß die Aufführung einer Novität in Berlin (für Orchester) 500 M an H. Wolff kostet?
Und wie käme man denn dazu eine Symphonie aufzuführen, die als letzten Satz eine „Passacaglia“ hat, an die sich ein Trauermarsch schließt; eine Symphonie, die ppp verhallt in Hmoll, sogar so geschrieben (Zettel liegt bei)
Einige meiner hiesigen „Kollegen“ haben ja schon über die Orgelsuite als sie noch Manuskript war die Köpfe geschüttelt; das Klavierkonzert [WoO I/4] ist ihnen zu toll – u. auf die Symphonie hin werden sie mich wohl für verrückt erklären. Ja, we› einem halt nichts mehr einfällt als c e g so ist das traurig; von musikalischer Logik vom Aufbau haben die ja gar keine Ahnung. Ich habe nämlich seit einiger Zeit hier den Spitznamen „Kontrapunktist“ oder der „Canoniker“. Letzthin mal saßen wir zusammen u. da wollten mich so einige Hochnäsige uzen u. meinten also so eine Passacaglia zu schreiben wär ja gar nicht schwer; man nimmt ein Thema u. macht darüber eben Variationen! Da schlug ich den Herren vor folgendes: „Alle Anwesenden Herren sollten zusammenhelfen u. eine Passacaglia schreiben über ein Thema das ich ihnen sogleich aufschrieb, im Ganzen nur 20 Variationen binnen 14 Tagen; könnten sie das also alle zusammen helfend, so wollte ich gerne 50 M zum Besten der Armen stiften. Die 14 Tage waren jetzt vor 8 Tagen ungefähr vorbei; ich habe aber keine Passacaglia zu sehen bekommen – u. so ist die Gesellschaft reingeflogen.
Was von Bach Arrangement’s erscheint? Also:
Präludium & Fuge D dur für Pianoforte zu 2 Händen übertragen v. M. Reger [Bach-B1 Nr. 3] bei Augener, London E. C. Newgate Street 22
am 1. Juni.Am 1. July erscheint:
Präludium & Fuge in G dur für Pianoforte zu 4 Händen übertragen. [Bach-B2 Nr. 4]Am 1. August
Präludium & Fuge in A moll zu 4 Händen [Bach-B2 Nr. 5]Am 1. September
Präludium & Fuge in E moll zu 4 Händen [Bach-B2 Nr. 8]Am 1. Oktober
Präludium & Fuge in Es dur zu 4 Händen [Bach-B2 Nr. 9].Am 1. November
Fantasie & Fuge in G moll zu 4 Händen [Bach-B2 Nr. 6].Am 1. Dezember
dasselbe zu 2 Händen.2
[Einschub mit Bleistift: „u. soweiter“]
Nun leb wohl. Laß Dirs gut gehen
Das Leben ist eine Hühnerleiter.
Ja, sogar darüber witzelt man hier, daß ich den Bach jetzt so herausgebe – Neid, weil sie ihn nicht arrangiert haben u. die Arrangements sind wirklich gut.
Mit bestem Gruß an die Deinigen
Dein
Max Reger
[Bleistift:]
Was ist die höchste Eitelkeit? .
Object reference
Max Reger to Adalbert Lindner, Wiesbaden, 19th May 1896, in: Reger-Werkausgabe, www.reger-werkausgabe.de/mri_postObj_01007906.html, version 4.0, 18th December 2025.
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